Schöner Bericht über Schiedsrichter - Handball-World

In der Hitze von Berlin: Aus dem Alltag eines Bundesliga-Gespanns

Ohne Schiedsrichter gäbe es keinen Spielbetrieb - das ist eine schlichte Wahrheit. Es ist jedoch kein einfacher Job, den die Unparteiischen jedes Wochenende in den deutschen Hallen machen. Harte und teilweise unsachliche Kritik, Gemecker, wenig Lob - verlockend klingt das für die wenigstens. Zudem ist der Druck enorm … und umso größer, je höher man spielt und pfeift. Das weiß keiner besser als die Bundesligaschiedsrichter des Deutschen Handball-Bundes. Doch was bedeutet das eigentlich - Bundesligaschiedsrichter zu sein? Wie läuft ein Spieltag für die besten der deutschen Referees ab? handball-world.com durfte das DHB-Gespann Hanspeter Brodbeck und Simon Reich einen Tag lang begleiten …

Es ist die 38. Spielminute, als sich alle Augen in der Max-Schmeling-Halle auf sie richten: Hanspeter Brodbeck und Simon Reich pfeifen das Bundesligaspiel zwischen den Füchsen Berlin und der TSV Hannover-Burgdorf; es ist eine enge Partie. Die beiden Unparteiischen beraten sich kurz, sie sind sich einig über die zu treffende Entscheidung: Als sie die rote Karte gegen Hannover geben, steht das DHB-Gespann im Mittelpunkt der 6.487 Zuschauer.

Für die beiden Gespannpartner und Freunde ist das Alltag: „Natürlich schaut in Situationen wie dieser jeder auf dich“, sagt Reich später. „Jeder will eine Entscheidung und dabei natürlich am besten die aus seiner Sicht richtige Entscheidung.“ Um diese richtigen Entscheidungen zu treffen, sind die beiden Studenten als Bundesligaschiedsrichter in der ganzen Republik unterwegs, Woche für Woche. Über 30.000 Reisekilometer kamen dabei allein 2013 zusammen.

Es ist enormer Zeit- und Organisationsaufwand - nicht nur für das junge Duo aus Süddeutschland, ihren Kollegen aus dem DHB-Elitekader geht es genauso. Das Pfeifen in der Bundesliga ist ein zeitintensives Hobby; ohne viel Begeisterung für „ihren Job“, wie Brodbeck und Reich die Schiedsrichterei nennen, ginge das nicht: „Es bringt uns so viel, denn neben den schönen Erlebnissen und Erfahrungen, die wir machen dürfen, war es auch für unsere Persönlichkeitsentwicklung sehr wichtig“, unterstreicht Brodbeck, während Reich schlicht von „einem unglaublichen Spaß und einer unglaublichen Freude“ spricht, die das Pfeifen für die beiden bedeute.

Vor dem Spiel: Früh anreisen und Kopf freikriegen

Nach Berlin ist das Gespann Brodbeck/Reich – über 100 DHB-Spiele, sechs EHF-Einsätze – bereits am Samstagabend gereist, mit dem Flugzeug. Ihre Schiedsrichterausstattung hatten sie dabei wie immer im Handgepäck. Es ist eine Vorsichtsmaßnahme, seit ihren Kollegen auf dem Weg zum Einsatz einmal ein Koffer verloren ging. Fliegen ist jedoch die Ausnahme, viel erledigen die beiden jungen Schiedsrichter per Auto oder Bahn. Um die Organisation ihrer Reisen muss sich das Gespann selbst kümmern, die Kosten werden am Ende erstattet. „Wir reisen immer zusammen an - nicht, weil wir es müssen, sondern, weil wir es wollen“, erklärt Reich. Die beiden verstehen sich auch privat bestens, sie sind eng befreundet. Seit 2001 pfeifen sie gemeinsam. „Wir können uns blind aufeinander verlassen und wissen, dass wir einander vertrauen können“, sagt Brodbeck, Reich nickt zustimmend.

An Spieltagen haben die beiden ihren festen Ablauf entwickelt. „Wir versuchen, immer sehr, sehr früh an der Halle zu sein“, beschreibt Brodbeck. Deshalb sind die beiden an diesem spätsommerlichen Septembertag bereits zwei Stunden vor Anpfiff an der Max-Schmeling-Halle. Sie stellen ihre Taschen in die Kabine und brechen zu einem Spaziergang auf. Das machen die beiden immer - „zumindest, wenn es nicht stürmt“ (Brodbeck) -, den Kopf noch einmal freikriegen. In einem Cafe im Schatten der Halle gibt es einen letzten Kaffee vor dem Spiel, als sie sich erheben, wünscht ein Füchse-Fan vom Nachbartisch „Gutes Spiel“. Die beiden - gut zu erkennen an dem schwarzen Poloshirt mit DHB-Emblem - bedanken sich mit einem Lächeln.

Zurück in der Kabine - ein schlichter, aber großer Raum, Bänke an den weißen Wänden, einen Tisch mit Stühlen in der Mitte - werfen sie einen Blick auf den Ablaufplan, der auf dem Tisch neben dem Hallenmagazin liegt, zusammen mit mehreren Flaschen Wasser. Sachen aufhängen (beide), Getränke mixen (Brodbeck), Fahrtkostenabrechnung (Reich) - die Aufgaben im Duo sind klar verteilt. Bevor die beiden Freunde einen ersten Blick in die Arena werfen und die Atmosphäre auf sich wirken lassen, drehen sie ihre Musik auf. „Wir hören vor jedem Spiel das gleiche Lied“, verrät Reich. „Damit stimmen wir uns darauf ein, dass es gleich losgeht.“ Er wippt mit den Beinen und singt den Text leise mit.

Technische Besprechung - und danach Ruhe bis zum Anpfiff

Eine Stunde vor Anpfiff eröffnet der Delegierte Uwe Stemberg die technische Besprechung. In der Schiedsrichterkabine haben sich zwei Vertreter jeder Mannschaft versammelt, zudem der Hallensprecher sowie Zeitnehmer und Sekretär. Überträgt das Fernsehen, ist auch ein Verantwortlicher des Senders dabei. Kurz wird der Ablauf besprochen, die Anzahl an auf dem Spielbericht eingetragenen Spielern und Offiziellen wird geklärt, beide Mannschaften präsentieren die Trikotfarben von Feldspielern und Torhütern. „Wenn es bei Spielen keinen Delegierten gibt, gehört auch die Leitung der Besprechung zu den Aufgaben der Schiedsrichter“, sagt Brodbeck. Doch diesmal können die beiden ruhig zuhören; nur, als Reich ihre Trikotfarbe nennt (es wird orange sein), meldet sich einer der beiden zu Wort. Nach fünf Minuten ist die Besprechung vorbei und bis auf Brodbeck und Reich verlassen alle die Kabine. „Das ist von uns Schiedsrichtern - von allen - klar kommuniziert: Nach der technischen Besprechung brauchen wir unsere Ruhe“, erklärt Brodbeck.

Nun beginnen die letzten Vorbereitungen: Die beiden Referees testen ihr Headset und ziehen sich um. Auch ihre Rituale vor dem Spiel laufen nun ab. „Wir haben ein paar Marotten, das hat sich über die Jahre so eingespielt“, stellt Reich mit einem Schmunzeln fest. „Hanspeter verteilt die Schiedsrichterkarten - er mischt sie immer, bevor er mir die richtige gibt - und wir motivieren uns nochmal gegenseitig. Ohne diese Dinge können und wollen wir gar nicht starten.“ In den schwarz-weißen DHB-Trainingsjacken macht sich das Gespann gut 40 Minuten vor Anpfiff auf den Weg zum Aufwärmen. In der Halle noch ein letzter Headset-Test, dann laufen sich Brodbeck und Reich zwischen den beiden Teams an der Mittellinie entlang warm.

Die beiden freuen sich genauso auf den Anpfiff wie Mannschaften und Fans. „Uns geht es wie den Spielern - wir wollen aufs Spielfeld“, beschreibt es Reich. „Wenn wir zum Einlaufen gehen, fängt es jedes Mal an zu kribbeln und wir spüren die Anspannung.“ In den letzten fünf Minuten in der Kabine - zwischen Aufwärmen und Einlaufen - „fokussieren wir uns noch einmal auf das Spiel“, wie Brodbeck sagt. „Wir muntern uns noch einmal auf und sagen: Jetzt zählt es!“ Um Punkt 15 Uhr pfeift er das Spiel an - auch das ein Ritual. „Hanspeter pfeift immer an“, hat Reich noch in der Kabine erklärt.

Unter Druck: 60 Minuten höchste Konzentration gefordert

In den folgenden 60 Spielminuten stehen Brodbeck und Reich gehörig unter Druck, für beide Mannschaften geht es um viel. Viermal Stürmerfoul werden die beiden am Ende der Partie gepfiffen haben, 13 Siebenmeter, 52 Freiwürfe, 57 Tore. Zehnmal haben sie den Arm als Warnzeichen des passiven Spieles gehoben, einmal das Zeitspiel abgepfiffen. Sieben Verwarnungen trägt das Kampfgericht ein, vier Zeitstrafen - davon eine gegen die Berliner Bank - und eben die rote Karte gegen Hannover.

Es ist das Arbeitsprotokoll eines Nachmittags, in dem die beiden Unparteiischen wiederholt ausgepfiffen wurden. Das bekommen die beiden aber nicht immer bewusst nicht: „Wir sind fokussiert auf das Spielfeld und nehmen nur begrenzt wahr, was um uns herum passiert“, gewährt Brodbeck einen Einblick. Zudem spielt es sowieso nur bedingt eine Rolle: „Ob 10.000 Leute in der Arena pfeifen oder ein einzelner, macht für uns keinen Unterschied“, erklären die beiden unisono. „Wir sind hier um das Regelwerk umzusetzen und genau das erwarten auch beiden Mannschaften von uns.“

Dass dabei unterschiedliche Ansichten vorprogrammiert sind, wissen beide - und haben Verständnis dafür. „Natürlich sehen die Mannschaften das sehr emotional“, sagt Brodbeck. Dass die Schiedsrichter dabei viel Frust und Wut abbekommen, daran haben sich die beiden gewöhnt - bzw. gewöhnen müssen. Die beiden Freunde versuchen das auszublenden und nicht an sich heranzulassen. Nur eines können die beiden gar nicht ab: Den Vorwurf, ein Spiel absichtlich zu verpfeifen. Reich: „Wir wollen den Handball genauso attraktiv gestalten wie alle anderen und unseren Job ordentlich machen. Für uns ist es undenkbar, etwas mit böser Absicht für oder gegen eine Mannschaft zu pfeifen - wir entscheiden neutral und den Regeln entsprechend.“

Nach dem Spiel: Die Zeit für Spielkritik bricht an

Nach dem Spiel sitzen die beiden Freunde erschöpft in der Kabine. Nicht nur für die Spieler, auch für die Schiedsrichter waren es 60 Minuten höchster Anspannung. Nun kommen sie langsam runter. Bei einem letzten Treffen mit den Mannschaftsverantwortlichen, dem Kampfgericht und dem Delegierten wurde der Spielbericht unterschrieben, nun haben sie ihre Pflicht für den Tag endlich erledigt. Zeit zum Durchatmen. Brodbeck lässt sich auf einen Stuhl fallen und trinkt ein paar Schlucke Wasser, erste Worte zum Spiel fliegen zwischen den beiden hin und her.

Denn bereits in der Kabine, unmittelbar nach Abpfiff, beginnt für Schiedsrichter jene Nachbereitung, die der Öffentlichkeit verborgen bleibt, für die Unparteiischen selbst jedoch dazugehört: Die Analyse des Spieles, auch anhand des Videomaterials von der Partie, die sie nach jedem Bundesligaspiel vom Heimverein erhalten. Bis zum nächsten Spiel werden Reich und Brodbeck auch dieses Spiel ausführlich besprochen haben, denn „unser Anspruch an uns ist hoch und wir sind selbst unsere schärfsten Kritiker“, wie beide sagen, bevor sie unter der Dusche verschwinden. Ihr Flug zurück nach Süddeutschland geht noch am selben Abend. Nur wenige Tage werden sie dann zu Hause sein, bevor es weitergeht - zum nächsten Spiel, in die nächste Halle in der nächsten Stadt. Hanspeter Brodbeck und Simon Reich freuen sich bereits jetzt darauf: „Wir sind immer heiß auf die Spiele. Dass wir das DHB-Abzeichen tragen dürfen, ist ein Traum für uns - nun wollen wir immer besser werden.“

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